Ehre (Schriftrolle 82)
(Honor von Ubar Luther)
(Hinweis: Diese Erörterung zur Ehre kann nicht alle Aspekte der Ehre ansprechen und auch nicht alle denkbaren Fragen zu diesem Thema beantworten. Sie ist eher eine Einführung in das Thema mit der Ergänzung um viele Zitate zur Ehre aus den Gor-Romanen. Zusätzlich werden in dieser Abhandlung zahlreiche Fragen zur Ehre zum Nachdenken für den Leser aufgeworfen.)
Ehre. Ehre ist ein Begriff, der oft in der Online Gor-Community verwendet wird. Aber haben wir ein angemessenes Verständnis seiner Bedeutung? Kann der Begriff definiert werden oder ist Ehre so vieldeutig, dass jede Person sie anders definiert? Verstehen wir alle potenziellen Auswirkungen der Ehre? Wir sollten dieser Erörterung eine Unterscheidung der verschiedenen Bereiche der Sprache voranstellen, die dieses Wort berührt. Beispielsweise kann "Ehre" sowohl als Substantiv als auch als Verb genutzt werden. Es kann auch als Adjektiv und Adverb verwendet werden. Und jede Verwendung hat ihre eigenen Nuancen und Bedeutungen. Beispielsweise haben die Sätze "du hast Ehre" und "ich ehre dich" eine völlig unterschiedliche Bedeutung. Auch die Sätze "du hast Ehre" und "du handelst ehrenhaft" besitzen nicht die gleiche Bedeutung.
"Indem wir diesen Mann ehren, ehren wir uns gleichermaßen selbst"
(Die Marodeure von GOR, S. 182)
Wir müssen deshalb den Umfang unserer Diskussion einschränken um das Thema angemessen behandeln zu können. Wir betrachten deshalb zuerst die Verwendung von "Ehre" als Substantiv. Die Auffassung von dem was "Ehre" bedeutet, unterscheidet sich zwischen verschiedenen Kulturen und sogar zwischen Gruppen innerhalb dieser Kulturen. Zum Beispiel unterscheidet sich die ritterliche Ehre Englands von der Ehre japanischer Samurai und beide unterscheiden sich von der Ehre der goreanischen Kriegerkaste. Das folgende kurze Beispiel soll zeigen, wie unterschiedlich das Verständnis von Ehre ausfallen kann. Für einen Samurai ist Selbstmord manchmal ein sehr ehrenvoller Tod. Es kann unter bestimmten Umständen die einzige Möglichkeit für einen Samurai sein, in Ehre zu sterben. Für einen goreanischen Krieger ist Selbstmord nie ehrenhaft. Selbstmord ist ein Verstoß gegen den Kastenkodex der Krieger. Aber bedeuten diese Unterschiede, dass Ehre nicht definierbar ist? Oder bedeuten sie, dass Ehre ein Leitbild einer Kultur ist, das nur innerhalb jeder einzelnen Kultur beantwortet werden kann? Oder müssen wir einfach nur den gemeinsamen Nenner zwischen diesen unterschiedlichen Vorstellungen von Ehre finden?
"Mein Geschäft mit den Priesterkönigen ist einfach, wie die meisten Fragen von Ehre und Blut"
(Die Priesterkönige von GOR, S. 14)
Der gemeinsame Nenner zwischen diesen verschiedenen Gruppen ist, dass sie alle einem bestimmten Verhaltenskodex folgen und der Besitz von Ehre basiert in der Regel darauf, ob eine Person diesem Kodex folgt oder nicht. Der Kodex unterscheidet sich zwischen diesen Gruppen aber allen ist gemeinsam, dass sie einem bestimmten Kodex folgen. In ihrem Kern besteht die Ehre deshalb in der Einhaltung eines ethischen Verhaltenskodex. Ehre kann nicht ohne Bezug auf Richtlinien oder Verhaltensstandards existieren, selbst wenn diese Richtlinien nicht explizit definiert sind. Wir können einen Mann als ehrenwert bezeichnen, sowohl basierend auf seinem Verhaltenskodex als auch nach unserem Standard. Und wenn wir beispielsweise Ehrlichkeit als Teil dieses ethischen Standards betrachten, dann würden wir eine ehrliche Person als ehrenwert gemäß dieses Standards sehen.
"Ehre", sagte ich, "hat viele Stimmen und viele Lieder."
Er sah beunruhigt auf mich herab. "Das ist die Sprache der Krieger", sagt er. "Das ist aus dem Kodex. Es ist lange her, dass ich das gehört habe. Ich hatte es fast vergessen. Wo hast du, ein Sklave, das gehört?"
"In Treve", sagte ich.
"Eine Räuberhöhle!", sagte er.
Ich antwortete nicht. Wer weiß, in welchen Häusern die Stimmen der Ehre gehört werden? Wer weiß, zwischen welchen Mauern ihre Lieder gehört werden?
(Die Zeugin von GOR, S. 711)
Auf Gor bilden hauptsächlich die Kasten-Kodizes den ethischen Standard, die Grundlage für die Bestimmung ob ein Mensch Ehre besitzt oder nicht. Eine Person die es nicht schafft, ihren Kastenkodex zu befolgen wird oft wahrgenommen als Person die keine Ehre besitzt. Die Kodizes verschiedener Kasten unterscheiden sich, teilweise erheblich. Ein Krieger kann seine Ehre durch eine bestimmte Tat verlieren, ein Assassine dadurch jedoch nicht. Diese Verhaltensregeln sind untrennbar mit der gesellschaftlichen und kulturellen Struktur Gors verbunden. Ihre Standards können nicht auf Gesellschaften und Kulturen der Erde angewandt werden, auch nicht auf solche, die in mancher Hinsicht ähnlich erscheinen. Wenn also eine Person behauptet, sie habe Ehre, behauptet sie im Wesentlichen, dass sie einem bestimmten Verhaltenskodex folgt. Aber solange man diese Person nicht besser kennt, kann man nicht wissen, was ihr Kodex genau mit sich bringt.
"Ich hatte Respekt vor Kastenehre. Ehre war Ehre, in kleinen Dingen genauso wie in großen. Wie kann man Ehre in großen Dingen beweisen, wenn man sie nicht in kleinen Dingen zeigt?"
(Der Schurke von GOR, S. 231)
Neben den konkreten Kastenkodizes scheint es auf Gor bestimmte Tugenden zu geben, die ganz allgemein von den meisten Kasten als richtig für Goreaner akzeptiert werden. Diese Tugenden können wiederum ihren eigenen allgemeinen Verhaltenskodex bilden, auf dem dann Ehre basiert. Allerdings muss beachtet werden, dass nicht jeder diese Tugenden befolgt oder sie wertvoll findet. Sie sind allgemeingültige Regeln und Vorsicht ist geboten, wenn man überlegt ob sie anwendbar sind oder nicht. Beispielsweise ist Ehrlichkeit, obwohl sie für viele Goreaner wichtig ist, weit von einer absoluten Tugend entfernt. Es gibt zahlreiche Ausnahmen, in denen völlige Ehrlichkeit nicht erwartet wird oder sogar nicht wünschenswert ist. Beispielsweise ist eine Kriegslist eine akzeptierbare Form der Täuschung. Es scheint jedoch einen Unterschied zu machen, ob eine Person einen Eid geschworen hat oder nicht. Das gilt als eine Frage der Ehre bei den meisten, wenn nicht allen Kasten auf Gor. Die meisten Goreaner empfinden es als Akt der Schande, wenn eine Person ihren Eid bricht.
"Der Goreaner neigt dazu, solche Dinge wie Ehre und Wahrheit sehr ernst zu nehmen."
(Die Zauberer von GOR, S. 255)
Real lebende Goreaner behaupten oft, dass Ehre eine Tugend der goreanischen Philosophie und Lebensweise ist. Kaum jemand würde widersprechen, dass Ehre eine würdige Tugend für jeden Menschen, ob auf Gor oder nicht, ist. Aber es gibt online viel weniger Diskussionen darüber, welche Bestandteile ein Verhaltenskodex haben müsste, der auf real lebende Goreaner anwendbar wäre. Somit wird ein Ziel vorgegeben, Ehre, aber die Richtlinien für das Erreichen dieses Ziels werden nicht mitgeliefert. Eine weitergehende Diskussion von Regeln zum korrekten Verhalten würde von großem Nutzen sein. Die Kastenkodizes aus den Büchern können jedoch offensichtlich nicht verwendet werden. Erstens wird kein Kastenkodex vollständig in den Büchern beschrieben. Wir kennen eigentlich nur den Kodex der Kriegerkaste genauer und selbst diesem Kodex fehlen zahlreiche Aspekte. Zweitens sind diese Kodizes zu eng mit der goreanischen Gesellschaft verwoben um auf der Erde allgemein anwendbar zu sein. Goreanische Gesetze unterscheiden sich stark von irdischen Gesetzen, weshalb Kodizes die auf Gor rechtlich zulässig wären, unter irdischen Gesetzen niemals funktionieren würden.
"Ehre ist für Goreaner in einer Weise wichtig, die für jemanden von der Erde schwer zu verstehen ist. Beispielsweise findet man es auf der Erde ganz natürlich, dass Männer für Gold und Reichtum in den Krieg ziehen, jedoch nicht für Ehre. Die Goreaner sind im Gegenteil eher bereit, Fragen der Ehre dem Urteil des Stahls zu überlassen, als Reichtum und Gold. Dafür gibt es eine einfache Erklärung. Ehre ist ihm wichtiger."
(Die Bestien von GOR, S. 42)
Einige werden behaupten, dass sich jeder Mensch auf seinen eigenen persönlichen Verhaltenskodex stützen soll, dass es keine Notwendigkeit gibt, einen Verhaltenskodex zu schaffen, der auf eine Gruppe angewandt werden kann. Obwohl das möglich ist, stellen sich zwingend einige Fragen. Wie würden wir dann die Ehre von anderen bewerten? Wir könnten ihre Ehre nicht bestimmen ohne zu wissen, welchem Verhaltenskodex sie folgen. Wir könnten sie auf Basis unserer eigenen Verhaltenskodizes beurteilen, doch das ist wenig aussagekräftig. Ihr Verhaltenskodex kann sich von unserem grundlegend unterscheiden. Wie könnte beispielsweise ein goreanischer Krieger die Ehre eines Samurai beurteilen, wenn dieser Krieger keine Kenntnis des Bushido hat? Wenn er die Beurteilung nach seinem Kodex vornimmt könnten einige der Taten des Samurais unehrenhaft gesehen werden, auch wenn diese im Sinne des Bushido ehrenwert sind.
"Es ist übrigens selten klug, die Ehre eines Goreaners zu bestreiten oder zu versuchen, sie zu manipulieren."
(Die Söldner von GOR, S. 297)
Wie könnten wir die persönlichen Verhaltensregeln anderer kennenlernen? Nur wenige Leute zählen solche Dinge öffentlich auf. Die meisten werden einzelne bestimmte Aspekte ihrer persönlichen Überzeugung diskutieren aber nicht ihren Glauben in seiner Gesamtheit. Es gäbe ein kompliziertes Durcheinander würde man versuchen, die Ehre eines anderen mit wenig oder keinen Hintergrundinformationen zu bewerten. Wenn manchmal anderen vorgeworfen wird, ehrlos zu sein, basiert diese Anschuldigung meistens auf dem Verhaltenskodex des Anklägers und nicht auf dem Kodex des Angeklagten. Deshalb sind diese Vorwürfe, wenn überhaupt, nur begrenzt anwendbar. Wenn wir uns als des individuellen Verhaltenskodex einer Person nicht vollständig bewusst sind, ist die Bewertung ihrer Ehre fast nicht möglich.
"Es gibt keinen Verlust an Ehre, wenn man ein solches Ziel nicht erreicht, sagte ich mir."
(Die Nomaden von GOR, S. 8)
Es gibt keine allgemeingültigen Verhaltensregeln, die auf alle Menschen angewandt werden können. Deshalb gibt es keinen universellen Standard, die Ehre einer Person zu beurteilen. Als Beispiel betrachten wir Ehrlichkeit. Obwohl es klar scheint, dass jeder ehrlich sein sollte und Ehrlichkeit Teil eines angemessenen Verhaltenskodex sein sollte, ist das nicht so einfach. Glauben wir wirklich, dass wir zu jeder Zeit vollständig ehrlich sein müssen? Oder gibt es Ausnahmen? Beispielsweise verlangt der Kodex der Kriegerkaste, dass ein Krieger einen Schwur nicht brechen darf. Aber der Kodex verlangt nicht, dass ein Krieger zu jeder Zeit ehrlich sein muss. Tatsächlich versteht die Kaste die gelegentliche Notwendigkeit einer Täuschung, insbesondere in Kriegszeiten. Es ist keine Schande, sich an solchen Tricks zu beteiligen. Selbst ein Mord ist nicht universell, da sich die Definition, was einen "Mord" ausmacht unterscheiden kann. Gemäß Bushido könnte ein Samurai einen Bauern töten, nur um die Schärfe seines Schwerts zu testen. Wie viele andere Kulturen würden das als Mord ansehen?
"Es gibt keine reinen Ehrensachen", sagte ich ihr.
(Die Vagabunden von GOR, S. 62)
Was ist der wahre Test für die Ehre einer Person? Was beweist ihre echten Überzeugungen? Ehre kann einschränkend wirken, einen Mann auf einen Weg führen, von dem er nicht abweichen darf. Manchmal kann man diesem Weg einfach folgen, manchmal ist es schwierig diesen Weg zu finden. Jeder kann dem Weg folgen, solange es einfach ist. Es sind die schwierigen Momente, die den wahren Charakter eines Menschen zeigen. Es ist leicht, Ehre zu besitzen wenn die Zeiten gut sind, wenn ehrenvolles Verhalten nichts kostet. Erst wenn die Entscheidungen schwieriger werden kommen die echten Prüfungen. Wenn eine Person die Kosten abwägen muss, die entstehen wenn sie dem Pfad der Ehre folgt. Dann entscheidet sich, wie wichtig dieser Person die Ehre ist. Folgt er dem Pfad der Ehre trotz der negativen Folgen die ein solcher Weg bereithält? Hält er sich an die Verpflichtungen der Ehre trotz aller Schwierigkeiten?
"Ein Mann hat Ehre wenn er sich an einem vorbildlichen Verhalten orientiert, auch wenn es unbequem, unrentabel oder gefährlich ist."
(Walter Lippman)
Nehmen wir an, jemand habe als Verhaltenskodex gewählt, niemals seinen Schwur zu brechen. Würden sie diesen Grundsatz immer einhalten? Oder würden sie nach Ausnahmen suchen um Unannehmlichkeiten zu vermeiden? Wenn sie geschworen haben, jemanden zu unterstützen und diese Person stellt sich als jemand heraus, den sie nicht mögen oder gar als Feind, würden sie immer noch ihr Wort halten? Würde das von der Art der Unterstützung abhängen, die sie versprochen haben? Wie viele Unannehmlichkeiten würden sie auf sich nehmen um ihr Wort zu halten? Angenommen sie haben versprochen, einer lokalen Wohltätigkeitsveranstaltung ehrenamtlich zu helfen. Sie bekommen dann aber Tickets für einen im Leben einmaligen Event, von dem sie schon immer geträumt haben. Würden sie ihr Wort brechen um zu diesem besonderen Event zu gehen? Was wäre stattdessen, wenn ihr Auto am Morgen der Wohltätigkeitsveranstaltung ausfällt? Würden sie 100 € für ein Taxi bezahlen, das sie dorthin bringt? Oder würden sie zuhause bleiben anstatt so viel Geld auszugeben?
"Aber nur wenige von ihnen so scheint es, egal wie perfekt wird sind, egal wie schön wir sind, werden ihre Ehre für uns in Gefahr bringen. Und ich widersetze mich dem nicht, denn ohne Ehre könnten sie keine Männer sein. Aber wenn sie keine Männer wären, richtige Männer, wie könnten sie dann für uns die richtigen und perfekten Herren sein?"
(Die Zeugin von GOR, S. 498)
Welche Kosten wären sie bereit zu zahlen, um ihre Ehre zu behalten? Würden sie lieber ihre Ehre behalten, wenn es sie möglicherweise eine Freundschaft kostet? Wenn es sie möglicherweise Geld kostet? Wenn ihr Ruf bei bestimmten Menschen leiden würde? Wenn nur wenige Menschen den Grund für ihre Handlungen verstehen würden? Würden sie im äußersten Fall den Tod dem Verlust der Ehre vorziehen? Wäre der Tod nur in besonderen Fällen der Schande akzeptabel? Oder ist der Selbsterhaltungstrieb stärker als die Ehre? Bestimmt ihr persönlicher Verhaltenskodex, dass sie sich nicht an Handlungen beteiligen müssen die zu ihrem Tod führen, auch wenn sie sich dann unehrenhaft verhalten würden?
"Die Männer auf Gor, unsere Herren, neigen dazu, Ehre sehr ernst zu nehmen."
(Die Zeugin von GOR, S. 408)
Würden sie ihre Ehre überhaupt für irgendetwas in Gefahr bringen? Wenn sie diese Frage verneinen, stellen sie im Grund die Ehre über alles andere. Das ist einfach zu behaupten aber der wahre Test wird erst kommen, wenn man mit den Füßen im Feuer steht und eine Entscheidung getroffen werden muss. Wären sie bereit, das Leben ihrer Frau und/oder ihrer Kinder für ihre eigene Ehre zu opfern? Würden sie es zulassen, für ihre Ehre einen schändlichen Tod zu sterben? Würden sie sich einer Ehrensache wegen verstümmeln lassen? Betrachten wir die Situation von Tarl Cabot, als er in "Die Piratenstadt von GOR" die Wahl hatte zwischen Sklaverei und einem ehrenvollen Tod. Er entschied sich für die Versklavung und obwohl er das Gefühl hatte, dadurch seine Ehre zu verlieren, die er nur Stück für Stück zurückgewinnen kann, empfanden andere das ganz anders. Samos erklärte, dass der Kodex nicht alle Wahrheiten der Welt enthält und er nicht findet, dass Tarl weniger ehrenhaft sei. Hätte sich irgendjemand für den Tod im Sumpf entschieden?
"... der durchschnittliche Goreaner ... seine Ehre ist im wertvoll ..."
(Kampfsklave auf GOR, S. 144)
Einige dieser Fragen führen zu einem anderen wichtigen Thema. Ist man verpflichtet, mit allen Menschen in ehrenvoller Weise umzugehen? Oder gibt es bestimmte Personen, mit denen man ohne Rücksicht auf Ehre umgehen kann? Verdienen es ihre Feinde, ehrenvoll behandelt zu werden? Oder gelten andere Regeln? Kann man einen Schwur brechen, den man einem Feind gegeben hat? Im ritterlichen Kodex der Gastfreundschaft gilt, wenn man jemanden in seinem Heim willkommen geheißen hat und erst später erfährt, dass es sich um einen Feind handelt, die Regeln der Gastfreundschaft weiterhin gelten. Man durfte nichts gegen den Gast unternehmen. Bedeutet ehrenwert zu sein hängt davon ab, mit wem wir interagieren oder ist das eher eine persönliche Angelegenheit?
Dabei muss auch berücksichtigt werden, was passiert, wenn sich jemand nicht gemäß seinem Ehrenkodex verhält. Was passiert mit ihrer Ehre, wenn sie eine unehrenhafte Handlung begehen? Ist ihre Ehre für immer verloren? Kommt es auf die Art der unehrenhaften Handlung an? Haben alle unehrenhaften Handlungen identische Auswirkungen auf die eigene Ehre? Gibt es eine Möglichkeit der Wiedergutmachung oder Rehabilitierung um seine Ehre zurück zu erhalten? Wenn ja, wie erreicht man dieses Ziel?
"Wenn Goreaner das Gefühl haben, dass Ehre im Spiel ist, wird der Umgang mit ihnen plötzlich sehr schwierig."
(Die Zauberer von GOR, S. 400)
Kann die Handlung einer anderen Person ihre Ehre positiv oder negativ beeinflussen? Können sie, positiv oder negativ, die Ehre einer anderen Person beeinflussen? Oder ist Ehre so persönlich, dass nur jeder einzelne seine Ehre selbst beeinflussen kann? Wenn Ehre bedeutet, einem persönlichen Verhaltenskodex zu folgen, dann scheint es unwahrscheinlich, dass eine äußere Kraft die Ehre eines Menschen beeinflussen könnte. Nur das betroffene Individuum kann sich aktiv entscheiden, seinem Kodex zu folgen oder ihn zu verletzen. Aber wie passt das mit der Ehre des Heimsteins, der Stadt oder der Kaste einer Person zusammen? Sie alle bestehen in der Regel aus einer Ansammlung von Individuen. Könnte dann eine einzelne Person, positiv oder negativ, die gesamte Ehre dieser Sachen beeinflussen?
"Ich saß in der Dunkelheit und machte mir Gedanken über Ehre und Mut. Wenn sie ein Schwindel wären, dann glaubte ich an den wertvollsten Schwindel. Wie sonst könnten wir uns von Urts und Sleen differenzieren? Was unterscheidet uns von diesen Tieren? Die Fähigkeit sich zu vermehren und zu bekämpfen, Lügen zu erzählen und Messer herzustellen? Nein, ich denke vor allem ist es das Ehrempfinden und der Wille, sich durchzusetzen."
(Die Marodeure von GOR, S. 6)
Freie Frauen und Ehre
"Männer sind ehrenhaft", sagte sie.
"So sind auch einige Frauen", sagte ich.
(Die Verräter von GOR, S. 6)
Es gibt oft Diskussionen darüber, wer Ehre besitzt, auch wenn allgemein anerkannt ist, dass alle freien Männer Ehre besitzen können. Es ist weniger akzeptiert, dass freie Frauen Ehre besitzen können, obwohl die Gor-Bücher diese Ansicht unterstützen. Freien Männern scheint Ehre jedoch ein wichtigeres Anliegen zu sein, als freien Frauen. Da freie Frauen ein Teil des Kastensystems sind, sind sie genauso an die Kastenkodizes gebunden wie es Männer wären. Wenn freie Frauen genauso gebunden sind, können sie auch Ehre besitzen, wenn sie ihrem entsprechenden Verhaltenskodex folgen. Das ist eine einfache, logische Weiterentwicklung. Warum solle man also denken, dass Frauen Ehre nicht besitzen oder verstehen können?
Die Gor-Romane betonen oft die Ehre des Kriegers und konzentrieren sich auf deren Kastenkodex, deren Verhalten. Die Kriegerkaste ist ganz klar nicht die einzige Kaste die Ehre besitzt, es ist lediglich die Kaste, die in den Büchern in erster Linie behandelt wird. Auch Frauen können der Kriegerkaste angehören. Sie können in die Kaste geboren oder als freie Gefährtin eines Kriegers in seine Kaste aufgenommen werden. Allerdings werden diese Frauen nie zum Krieger ausgebildet. Sie lernen keine Kampftechniken. Deshalb können große Teile des Kodex der Kriegerkaste auf sie nicht angewandt werden. Soweit dies der Fall ist, sind die Erörterungen zu Fragen der Ehre der Kriegerkaste weitgehend irrelevant für Frauen in dieser Kaste. Zu den Bereichen in denen der Kriegerkastenkodex auf Frauen angewandt werden kann wird in den Büchern nur wenig gesagt, aber sie existieren. Darüber hinaus würden solche Frauen durch allgemeine goreanische ethische Normen und Tugenden gebunden, eine zusätzliche Basis zur Beurteilung ihrer Ehre.
Sklaven und Ehre
"Der Sklave, nebenbei bemerkt, möchte einem Ehrenmann gehören. Wir möchten stolz auf unsere Herren sein. Außerdem sind wir bei so einem Mann sicherer. Ein Ehrenmann, vielleicht zum Teil aufgrund seines Ehrgefühls, hält uns natürlich in kompromisslosen, perfekten Fesseln. Aber das ist, was wir wollen, denn wir sind Sklaven."
(Die Zeugin von GOR, S. 408)
Kann ein Sklave Ehre besitzen? Fällt die Antwort unterschiedlich aus für einen Sklaven in den Gor-Büchern im Gegensatz zu einem realen Sklaven? Es herrscht viel Uneinigkeit darüber, ob Sklaven Ehre besitzen können oder nicht und viele glauben, dass Sklaven keine Ehre besitzen. Das wird teilweise dadurch begründet, dass Sklaven Eigentum sind, wie ein Sleen, und deshalb keine Ehre besitzen können. Einige sind außerdem der Ansicht, dass Ehre eine Art von Besitz ist und da Sklaven nichts besitzen können, können sie auch keine Ehre besitzen. Wieder andere glauben, da Sklaven ihrem Besitzer vollständig gehorchen müssen, sie keine Ehre besitzen können, da sie lediglich ihrem Besitzer gehorchen. Das sind keine leichten Fragen, da sie viele Fragen über das Wesen der Ehre aufwerfen.
Interessanterweise glauben viele Menschen, dass niemand sonst ihre Ehre beeinflussen kann. Sie haben die vollständige Kontrolle über ihre Ehre. Die Handlungen anderer können und werden sich auf ihre Ehre nicht auswirken. Wenn wir akzeptieren, dass Ehre ein persönlicher Verhaltenskodex ist, dann scheint das im Großen und Ganzen wahr zu sein. Es hängt dann nur noch von ihrer Entscheidung ab, ob sie sich an ihren eigenen Verhaltenskodex halten oder nicht. Aber das ist ein interessanter Punkt in der Frage, ob ein Sklave Ehre besitzt oder nicht. Wenn ein freier Mann, der Ehre besitzt, zwangsweise versklavt wird, wird ihm durch den Akt der Versklavung seine Ehre genommen? Macht es logisch betrachtet Sinn, dass jemand anderes ihnen ihre Ehre wegnehmen kann? Wenn kein anderer ihre Ehre beeinflussen kann, dann sollte der Akt der Versklavung ihnen auch nicht ihre Ehre nehmen können. Das wiederum bedeutet, ein Sklave kann Ehre besitzen. Eine zwangsweise Versklavung ist jedoch etwas grundlegend anderes als wenn sich eine Person freiwillig unterwirft. Dann würde eine Person seine Ehre verlieren, wenn der Ehrenkodex verlangt, dass sie sich nicht unterwirft. Was passiert, wenn eine Person aus der Sklaverei freigelassen wird? Erhält sie automatisch ihre Ehre zurück? Oder kann sie ihre Ehre nie mehr zurückbekommen? Bekommen sie ihre Ehre nur zurück, wenn sie zwangsweise versklavt wurden?
Kann ein Sklave seinem Herrn Ehre bringen oder ihn entehren? Fällt die Antwort auf diese Frage anders aus, wenn es sich um einen Sklaven in den Gor-Büchern oder einen realen Sklaven handelt? Wenn man glaubt, dass ein Sklave keinen Einfluss auf die Ehre des Besitzers haben kann, warum glaubt dann der berüchtigte Rask aus Treve, dass Elinor durch ihre Taten "seine Ehre beflecken" könnte? Gibt es einen Abschnitt in den Büchern in dem behauptet wird, ein Sklave hätte keinen Einfluss auf die Ehre einer freien Person?
Ist Ehre ein Besitz oder lediglich eine Tugend? Sind alle Tugenden ein Besitz? Sind Tugenden wie Mut, Weisheit, Gerechtigkeit und Loyalität ein Besitz? Kann ein Sklave Tugenden besitzen? Gibt es mehrere Definitionen des Besitzes und ist einem Sklaven "Besitz" erlaubt, abhängig von einer bestimmten Definition? Bezieht sich das Verbot des Besitzes für Sklaven nur auf materielle Gegenstände?
Wenn Ehre durch eine Person bestimmt wird, warum sollten dann Sklaven keine Ehre besitzen können? Könnte sich ein Sklave seinen eigenen Ehrenkodex gestalten? Könnte dieser Kodex Werte wie Loyalität und Ehrlichkeit enthalten, die üblicherweise als ehrenwert angesehen werden? Wenn ein Besitzer seiner Sklavin befiehlt, gegen ihren Ehrenkodex zu verstoßen, könnte sie ungehorsam werden um ihrem Ehrenkodex treu zu bleiben? Gibt es einen Unterschied zwischen Ehre besitzen und ehrenhaft handeln? Wenn es diesen Unterschied gibt, kann dann jemand Ehre besitzen aber unehrenhaft handeln? Kann man ohne Ehre ehrenhaft handeln? Kann ein Sklave ehrenhaft handeln, wenn er keine Ehre besitzt?
Offensichtlich gibt es für viele dieser Fragen keine einfachen Antworten. Wir müssen auch eindeutig zwischen realen Sklaven und Sklaven aus den Büchern unterscheiden. Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen den beiden, weshalb auch die Regeln unterschiedlich sein können.
"Der kürzeste und sicherste Weg zu einem ehrenhaften Leben in der Welt ist, wirklich zu sein, was wir zu sein scheinen wollen. Alle menschlichen Tugenden wachsen und stärken sich durch die Übung und Gewöhnung an sie."
(Sokrates)
(Übersetzung von Fiasco)