Die Tugenden der Ethik (Schriftrolle 77)
(Virtue Ethics von Ubar Luther)
(Bitte beachten Sie, dass diese Scroll nur als Überblick über das Thema gedacht ist. Sie enthält einige sehr kurze Zusammenfassungen einiger komplexer ethischer Theorien. Wenn sie mehr darüber erfahren möchten, sollten Sie Bücher und andere Quellen über diese Themen zu Rate ziehen. Es gibt sehr viele sehr gute Bücher dazu im Buchhandel. Es gibt auch zahlreiche Quellen im Internet.)
Zweifellos würde niemand bestreiten, dass der wichtigste Aspekt goreanischer Philosophie die Ethik, die Art und Weise wie man ein anständiges Leben führt, ist. Es spiegelt sich stark in dem Ausdruck "lifestyle" wieder, der von einigen benutzt wird, um ihre goreanische Lebensweise zu beschreiben. Ethik ist ebenfalls ein Schlüsselthema auf vielen Web-Seiten und Foren, wo die goreanische Philosophie und Lebensweise diskutiert wird, obwohl es selten als Ethik- oder Moraldiskussion benannt wird. Außerdem beschäftigen sich diese Seiten und Foren meist mit sehr speziellen Themen und weniger mit goreanischer Ethik im Allgemeinen. Sie liefern fast immer Bruchstücke eines Moralsystems ohne einen vollständigen Rahmen goreanischer Ethik abzubilden. Manche glauben sogar, es sei unmöglich, eine Synthese eines vollständigen Moralsystems zu entwerfen.
Aber wenn Ethik so wichtig für die goreanische Philosophie ist, so lebenswichtig, dann ist es besonders dringend notwendig, die Gesamtheit des goreanischen Moralsystems zu verstehen. Es genügt nicht, die Bruchstücke zu verstehen ohne das vollständige Puzzle zu betrachten. Nur das Gesamtbild vermittelt das tiefe Verständnis, dass Menschen im Allgemeinen suchen. Ein Hauptgrund, tiefes Verständnis zu erschweren, ist die Tatsache, dass das goreanische Moralsystem völlig anders ist, als die Moralsysteme, an die wir gewöhnt sind. Wir trotten nicht auf bekanntem Boden dahin, sondern wir bahnen einen uralten Pfad, der bei modernen Menschen oft in Vergessenheit gerät. Wir müssen also mehr über diesen antiken Weg erfahren und uns nicht ausschließlich auf das verlassen, was uns jahrelang gelehrt und vorgestellt wurde. Wir müssen uns für dieses neue Vorstellungsbild öffnen.
Lassen Sie uns zunächst einige der moralischen Probleme unserer Welt betrachten, wichtige Themen, wie Abtreibung, Clonen, die Bestrafung von Schwerverbrechen, Tierexperimente und den Gebrauch illegaler Drogen. Es wird häufig sehr heiß über diese kontroversen Themen gestritten, von Menschen, die Positionen des Für und Wider vertreten. Diese Menschen halten diese Themen entweder für gute oder schlechte, manchmal sogar für böse Handlungen. Um ihre Positionen zu vertreten, kann ihre Argumentation auf der Unterstützung der 10 Gebote oder auf Kants kategorischem Imperativ gegründet sein. Sie könnte ihr Fundament im jüdischen Gesetz finden, im Islam, in Benthams Nützlichkeitsprinzip oder einer anderen philosophischen Schule. Egal, welche Position sie vertreten, fast immer wird es eine Art unterstützendes Fundament für ihren ethischen Standpunkt geben.
Obwohl alle diese Fundamente als unterschiedliche Moralsysteme betrachtet werden, teilen sie jedoch eine wichtige Gemeinsamkeit. Alle diese Moralsysteme beschäftigen sich mit Pflichten, Moralgesetzen und Rechten. Sie bewerten die Handlungen eines Menschen und entscheiden dann, ob diese Handlungen gut oder böse waren, richtig oder falsch. Die Handlung stellt den entscheidenden Schlüssel dar. Jedes dieser Moralsysteme kann ohne Probleme eine Liste von Handlungen entwerfen, die von ihren Grundsätzen entweder unterstützt oder abgelehnt werden. Hält man sich an die vorgegebenen Regeln, wird man als guter Mensch betrachtet. Die überragende Grundregel aller dieser Moralsysteme besteht darin, dass man die vorgegebenen Gebote befolgt.
Es scheint also einfaches Vorgehen für jedes Moralsystem zu sein, festgelegte Regeln zu entwerfen, um zu beurteilen, wie jemand handelt. Man weiß, was erwartet wird, obwohl es einige Unterschiede in der Interpretation oder Unklarheiten in der Machtverteilung geben kann. Solche Moralsysteme bezeichnet man als "handlungszentriert", weil sie sich mit richtigen oder falschen Handlungsweisen beschäftigen. Handlungszentrierte Moralsysteme bilden bei Weitem die überwiegende Mehrheit in der modernen Welt. Sie waren über Jahrhunderte maßgeblich. Es ist sehr wahrscheinlich, dass fast jeder von uns dazu erzogen wurde, irgendeine Art von handlungszentrierter Moral zu verstehen und ihr zu folgen. Die Vereinigten Staaten, wie die meisten Länder, sind eine Nation mit Rechten, Pflichten und Gesetzen. Sie ist auf handlungszentrierte Ethik gegründet. Dennoch bilden handlungszentrierte Moralsysteme nicht die einzige Alternative, obwohl dies vielen Menschen nicht bewusst ist. Es gibt allerdings auch wenig moderne Rollenmodelle für andere Moralsysteme, wenig Orte, die man besuchen kann und wo in diesen Alternativen geschult wird. Also müssen wir erneut in unsere antike Vergangenheit tauchen, um mögliche Antworten zu finden.
Die frühesten griechischen Philosophen ähnelten mehr Naturwissenschaftlern als dem, was wir heute als Philosophen betrachten, da sie überwiegend damit beschäftigt waren, natürliche Abläufe zu erklären. Sie entwickelten ausgefeilte Theorien über den Ursprung des Universums, versuchten dabei oft, das erste vorhandene Element zu bestimmen, wie Feuer oder Wasser. Sokrates war vermutlich der erste griechische Philosoph, der von diesem Pfad abwich und es vorzog, seine Philosophie auf eine deutlich persönlichere Ebene zu konzentrieren. Er wollte untersuchen, wie Menschen leben sollten, wie ein Mensch Moral erwerben könnte. Diese Themen waren für vorausgegangene Philosophen von geringem Interesse. Sokrates verbrachte fast sein ganzes Leben damit, Themen über Moral zu untersuchen, oft, indem er andere befragte, die meinten, darin sehr bewandert zu sein. Die Definition moralischer Begriffe war ein sehr wichtiger Aspekt seiner Fragen. Seine Schüler, wie auch andere ihm folgende Philosophen wandelten in seinen Fußstapfen und fuhren fort, Moral zu untersuchen. Dadurch wurde Ethik zu einem wichtigen Teil der Philosophie.
Zeus, Hera, Apollo, Poseidon, Dionysos. Dies sind nur wenige aus der Vielzahl der Götter des antiken Griechenlands, die trotz ihrer großen Zahl kaum moralische Forderungen an die Griechen richteten. Die griechischen Götter gaben ihren Gläubigen nichts, was mit den 10 Geboten oder dem Islamischen Gesetzen vergleichbar wäre. Sie lieferten keine Liste erwünschter Handlungen. Wenn überhaupt, gab es einige Regeln, religiöse Dinge betreffend, die allerdings kein komplettes Moralsystem umfassten. Diese Regeln waren im Grunde Richtlinien für Anbetung und Opfergaben. Dadurch beschäftigten sich die Griechen sehr viel weniger damit, die Moral bestimmter Handlungen zu bewerten. Ihnen fehlte die nötige Grundlage um eine solche Bewertung durchzuführen. Stattdessen war der Charakter des einzelnen, individuellen Menschen, seine innere Natur von höchster Wichtigkeit. Sie glaubten, dass ein Mensch mit gutem Charakter, voller Tugend, nur Handlungen ausführen würde, die gut waren. Dieses Konzept ist radikal anders als die modernen Moralsysteme.
Das antike griechische Moralsystem wird als "personenzentriert" betrachtet, da es sich auf das Individuum gründet, die Person und nicht auf seine Handlungen. Und für die meisten Griechen war ihre personenbezogene Moral wirklich eine Form tugendhafter Ethik. Tugendhafte Ethik beinhaltet die Vorstellung, dass es bestimmte Tugenden gibt, die als förderlich für ein anständiges Leben betrachtet werden. Der Mensch arbeitet daran, diese Tugenden zu vervollkommnen um ein besseres und erfüllteres Individuum zu werden. Eine Person, die diese Tugenden besitzt, wird keine Handlungen begehen, die von anderen als schlecht oder böse betrachtet werden. Er wird ein moralisches Leben führen, dass positiv auf die Gesellschaft wirkt. Er trägt selbst die Verantwortung für sich und versucht, alles zu vermeiden, was seinem Charakter schadet. Er besitzt genug Selbstbeherrschung um seine dunkleren Bedürfnisse und irrationalen Triebe zu kontrollieren.
Obwohl die meisten Griechen die Akzeptanz tugendhafter Ethik teilten, unterschieden sie sich doch in ihrer Annäherung an ein solches System. Es gab zahlreiche Variationen, welche dieser Tugenden für wichtig gehalten wurden und wie man diese Tugenden erlangen konnte. Die platonischen Tugenden der Ethik unterschieden sich von denen des Aristoteles und die wiederum von denen der Stoiker. Von all diesen Systemen waren vermutlich die meisten Menschen mit den ethischen Tugenden des Aristoteles und seiner "Lehre der Mitte" vertraut. Außerdem begründen die meisten modernen Philosophen, die eine Rückkehr zu den Tugenden der Ethik suchen, ihre Systeme auf Aristoteles.
Aristoteles glaubte, dass die rationale Kontrolle unseres irrationalen Inneren zur Tugend führt. Er glaubte nicht an die Möglichkeit, unflexible Regeln für moralisches Handeln zu erstellen, da eine einzige Antwort nicht für alle Situationen zutreffend sein könne. Ein Mensch muss seinen Verstand benutzen, um sich der richtigen Antwort in jeder denkbaren moralischen Situation zu nähern. Aristoteles nahm an, dass, wenn wir unserer irrationalen Seite, unseren Emotionen, unseren Wünschen erlauben, uns zu kontrollieren, wir dazu neigen würden, Extreme unserer Tugenden auszubilden. Und zuviel oder zuwenig einer Tugend wurde als falsch und schädlich für die Individualität betrachtet. So gehört zum Beispiel zur Tugend des Mutes die Feigheit (zu wenig) und die Unbesonnenheit (zu viel). Aristoteles glaubte daran, dass der Mensch die Mitte einer Tugend anstreben solle, die Ausgewogenheit zwischen zwei Extremen. Aristoteles schätzte viele Tugenden und forderte, in allen von ihnen, die Mitte zu suchen. Für ihn lag das höchste Gut in der "Eudämonie", was wörtlich übersetzt "gleich den Göttern" heißt, aber einfach mit "Glücksgefühl" bezeichnet werden kann. Allerdings hat der Begriff Eudämonie eine viel weiter reichende Bedeutung als Glücksgefühl. Das Kernstück liegt darin, ein Leben wertvoll und erfüllt sein zu lassen. Und es ist die richtige Anordnung von Tugenden, die zur Eudämonie führt.
Allerdings, wie in meiner früheren Rolle über Platos Die Republik erwähnt wurde, beachteten viele Griechen nur die vier Haupttugenden: Weisheit, Mut, Selbstkontrolle und Gerechtigkeit. Sie akzeptierten zahlreiche andere Tugenden als wertvoll und wünschenswert, aber die meisten von ihnen hielten die vier Haupttugenden für die wichtigsten. Ein Mensch, der diese Tugenden besitzt, würde auch "arete" besitzen, was, obwohl oft mit "Tugend" übersetzt, richtigerweise als "Vortrefflichkeit" übersetzt werden sollte. Solche Vortrefflichkeit kann von moralischer Vortrefflichkeit bis zu Vortrefflichkeit in Handel oder Kunst reichen. Die ursprüngliche Bedeutung, aus der Zeit Homers, meinte militärische Vortrefflichkeit, die Kunst der Kriegsführung. Ein Mensch, der arete besaß, war bei den Griechen hoch angesehen.
Es gibt aber noch einen weiteren grundlegenden Unterschied zwischen den Moralsystemen der antiken Griechen und der Ethik der Neuzeit. Die Moralsysteme der modernen Welt haben im Allgemeinen eine feste Vorstellung von Gut und Böse. Allerdings hat das Konzept des Bösen meist ein religiöses Fundament, und die meisten westlichen Zivilisationen gründen sich auf ein jüdisch-christliches Rahmenwerk. Nietzsche sprach oft genau über diesen Punkt, wenn er zu einer Neudefinition von Moral aufrief, da er theologisch fundierten Morallehren widersprach. Er akzeptierte den Begriff "böse" nicht als validen Terminus zur Evaluation von Moral. Nietzsche war von der griechischen Philosophie begeistert, da er ihre moralischen Wertmassstäbe vorzog. Die Griechen besaßen kein solches Konzept des Bösen. Ihre Götter lieferten keine genügende theologische Grundlage, aus der man das Böse hätte ableiten können. Für die Griechen waren die wesentlichen gegensätzlichen moralischen Werte gut (agathon) und schlecht (kakon). Die griechische Definition dieser Begriffe weicht sehr von dem ab, was wir darunter verstehen würden. So umfasst zum Beispiel agathon solche Dinge wie vornehme Geburt, Wert im Kampf und Vortrefflichkeit bei Handwerk und Begabung.
Obwohl die Unterscheidung zwischen schlecht und böse unbedeutend erscheinen mag, ist sie tatsächlich ziemlich wichtig, wenn vielleicht auch subtil. Das Konzept des Bösen ist emotional mit großer Symbolik aufgeladen. Es impliziert häufig eine bestimmte Absicht, die Absicht einer Person, etwas zu tun, von der sie weiß, dass es falsch ist. Jemand der unabsichtlich einen Anderen tötet, wird nicht böse genannt. Jemand der einen Anderen absichtlich tötet, ohne ersichtlichen Grund und in vollem Bewusstsein der Konsequenzen, gilt als böse. Beim griechischen Konzept des Schlechten geht man davon aus, dass ein Mensch etwas Schlechtes nur aus dem Mangel an Wissen, also aus Dummheit heraus, tut. Man nahm an, dass kein vernünftiger Mensch absichtlich etwas schlechtes tun würde. Schlechte Handlungen resultieren daraus, dass wir unseren irrationalen Anteilen die Führung unseres Tuns überlassen. Es gab wesentlich mehr Sympathien für Menschen, die schlechte Handlungen vollzogen, den Wunsch, dabei zu helfen, sie auf den richtigen Pfad zurückzuführen.
In der Tat gibt es eine wachsende Zahl moderner Philosophen, die sich wieder einmal der Moral der antiken Griechen zuwenden, weil sie mit den gegenwärtigen handlungszentrierten Moralgesetzen nicht zufrieden sind. Sie sind unzufrieden mit der Art und Weise in der handlungszentrierte Moral unsere Welt und die Menschen darin beeinflusst haben. Deshalb suchen sie Alternativen, etwas mehr positives und wirksameres. Sie verändern vielleicht einige kleinere Aspekte des griechischen Moralsystems, aber sie versuchen, der personenbezogenen Ethik treu zu bleiben. Allerdings ist dies ein Faktum, dass der einfache Mensch oft ignoriert. Er nimmt sich selten die Zeit, sein eigenes Moralsystem zu hinterfragen und es mit Alternativen zu vergleichen. Er versteht den Unterschied zwischen handlungs- und personenbezogenen Moralsystemen nicht. Dennoch, wenn er darüber nachdenkt, ein neues philosophisches System anzunehmen, wäre es ihm nützlich, unterschiedliche Moralsysteme besser zu begreifen. Umfassendes Wissen und gute Ausbildung spielt bei wichtigen Lebensveränderungen immer eine wichtige Rolle.
Aber was hat all dies mit Gor zu tun? Es gibt eine Zahl wichtiger Fragen, die goreanische Philosophie betreffend, die eine direkte Verbindung zu diesem Thema haben. Welche Art von Moralsystem besitzt die goreanische Philosophie? Ist es eine handlungs- oder personenbezogene Moral? Woher bekam die goreanische Moral ihre Inspiration? Stellt die Anbetung der Priesterkönige eine theologische Grundlage für Moral auf Gor her? Hat Gor ein Prinzip von Gut und Böse? An welche Stelle innerhalb der goreanischen Moral gehören die Kasten-Kodizes? Schaffen die Kasten-Kodizes eine handlungsbezogene Moral? Da die Kasten-Kodizes für jede Kaste unterschiedlich sind, bedeutet das, dass es auf Gor mehrere Moralsysteme gibt?
"Die Nagelprobe einer Gesellschaft besteht nicht in ihrer Konformität oder Nonkonformität mit Prinzipien, sondern in der Natur und dem Gedeihen ihrer Mitglieder. Es sollte jeder für sich selbst den Erfolg seiner Gesellschaftsform betrachten und bewerten. Die Menschheit lebt in den Ruinen von Ideologien. Vielleicht wird er sich eines Tages aus den Höhlen und Pferchen seiner Vergangenheit erheben. Es wäre ein wundervoller Tag, das mit anzusehen. Eine sonnendurchwirkte Welt würde auf ihn warten."
(Sklavin auf GOR, S. 212)
Etwas weiter oben auf dieser Scroll haben wir den Unterschied personen- und handlungszentrierter Moralsysteme und die Tugenden der Ethik diskutiert. Dieser Abschnitt endete mit einer Anzahl an Fragen, Fragen die die Diskussion auf die goreanische Philosophie ausrichteten. Ethik ist wichtig für viele Philosophien und die goreanische bildet da keine Ausnahme. Dennoch ist es ein Thema, das selten ausführlich online aufgegriffen wird. Es gibt selten Diskussionen über die Gesamtheit goreanischer Ethik. Wenn überhaupt gibt es Diskussionen über bestimmte ethische Aspekte, aber selten über die Gesamtheit. Nur wäre nützlich, das Ganze zu betrachten, um die einzelnen Aspekte zu verstehen. Also betrachten wir das Ganze auf der Suche nach goreanischer Moral.
Der erste und offensichtlichste Ort um damit zu beginnen ist die Religion Gors. Religion stellt oft die Grundlage für Moral dar, besonders in den modernen Moralsystemen der Erde. Können wir also eine theologische Grundlage der Moral auf Gor finden? Liefert die Gotteslehre der goreanischen Religion ein Konzept von Gut und Böse? Der wichtigste Grundsatz der goreanischen Religion ist die Anbetung der Priesterkönige, der geheimnisvollen "Götter" Gors. Diese Religion wird von der Kaste der Eingeweihten verwaltet, der höchsten Kaste und sie helfen dabei, sicherzustellen, dass die Priesterkönige die ihnen geschuldete Verehrung bekommen. Es gibt noch einige andere Religionen auf Gor, die aber auf bestimmte Kulturen begrenzt bleiben, meist die "barbarischen" Kulturen. So verehren zum Beispiel die Wagenvölker den "Geist des Himmels" und Thorvaldsländer beten Götter wie Odin oder Thor an. Aber auch diese Kulturen erkennen im Allgemeinen die Existenz der Priesterkönige an, auch wenn sie sie nicht verehren.
Wenn wir untersuchen, was über die Religion der Priesterkönige bekannt ist, finden wir nicht sehr viel, was als Fundament einer Moral dienen könnte. Die Religion scheint sich nur für das Befolgen bestimmter Rituale und basaler Verehrung zu befassen. "Wir reden nicht mit dem Herzen eines Menschen," sagte OM, "nur zu seiner Angst. Wir reden nicht von Liebe und Mut, von Loyalität und Ehre - sondern von Umsetzung und Beachtung und der Strafe der Priesterkönige - " (Die Priesterkönige von GOR, S. 300) Es gibt nichts, das mit den christlichen "10 Geboten" vergleichbar wäre. Die Priesterkönige gaben den Goreanern keine Liste, was sie tun oder lassen sollten. Im Grunde besteht das einzige von den Priesterkönigen formulierte Verbot aus den Waffen- und Technologiegesetzen. Diese Gesetze schränken lediglich die Technologie Gors ein. Die Strafe der Priesterkönige bei einer Verletzung dieses Verbots ist der Flammentod. Die Religion der Priesterkönige beinhaltet kein Leben nach dem Tod und Unsterblichkeit kann nur von den Angehörigen der Kaste der Eingeweihten erreicht werden. Deshalb wird niemand, der die Gesetze der Priesterkönige verletzt an einen Ort kommen, den man Hölle nennt. Wir sehen auch, dass die Priesterkönige kein Prinzip von Gut und Böse etabliert haben. Wir sehen nur das Streben nach Befolgung dieser wenigen Regeln. Die Religion ist also ähnlich der Religion der antiken Griechen. Deshalb liefert sie keine ausreichende Grundlage für eine Morallehre und wir müssen andernorts nach der Ethik Gors suchen.
Wir müssen nicht allzu weit suchen, um eine wichtige Spur zu finden, die zur goreanischen Ethik führt. "Die Morallehren auf Gor, die unabhängig von den Ansprüchen und Vorschlägen der Eingeweihten sind, umfassen nicht viel mehr als die Kasten-Kodizes - Sammlungen von Sprichworten, deren Ursprung in der Antike verloren ging." (GOR - Die Gegenerde, S. 40) Ist dies der Schlüssel zur Ethik Gors? Wenn ja, begründen die Kasten-Kodizes eine handlungszentrierte Moral? Da die Kasten-Kodizes für jede Kaste unterschiedlich sind, bedeutet das dann die Existenz mehrerer Morallehren auf Gor? Da es diese Kasten nicht gibt, ist es dann unmöglich, goreanischer Moral auf der Erde zu folgen? Um diese Fragen zu klären, sollten wir die Kasten-Kodizes von Gor untersuchen.
Leider gibt es wenig ausführliche Informationen über die Kasten-Kodizes von Gor in den Büchern. Die Romane enthalten vor allem Informationen über den Kasten-Kodex der Krieger und fast nichts über die Kodizes der anderen Kasten. Es gibt bestenfalls ein oder zwei Anmerkungen bei den Kodizes dieser oder jener Kaste. Und selbst im Fall der Kriegerkaste liefern die Kasten-Kodizes nur eine kleine Zahl von einigen Duzend Hinweisen. Da einer dieser Hinweise als 97. Aphorismus bezeichnet wird, können wir sicher sein, dass es viele ausgelassene Regeln gibt. Dadurch ist das Material zum Untersuchen begrenzt.
Aber wenn wir die bekannten Kodex-Regeln analysieren, können wir den vorsichtigen Schluss ziehen, dass diese Regeln einen berufsbezogenen und keinen allgemein gültigen Moral-Kodex bilden. Ich meine damit, dass die Ethik an die spezielle Ausübung der beruflichen Pflichten der jeweiligen Kaste gebunden ist. Dies entspricht der Berufsethik von Anwälten und Ärzten auf der Erde. Solche Moralregeln zielen vorwiegend auf eine Anwendung bei der Ausübung des jeweiligen Berufes und nicht im täglichen Leben. Die Kasten-Kodizes Gors zeigen auf, wie man seinen Job richtig macht. So ist zum Beispiel ein bekanntes Gebot des Händler-Kasten-Kodex, dass ein Händler immer für seine Waren oder Dienste bezahlt werden muss. Sie dürfen ihre Produkte nicht umsonst feilbieten. Der Kasten-Kodex der Krieger gibt Regeln für zum Beispiel den Kampf des Schwert-Rechts oder die Details über den Status eines Ubar vor, oder auch was geschieht, wenn eine Frau sich einem Krieger unterwirft. Wir erkennen wenig allgemeingültige Richtlinien in den Kasten-Kodizes. Die Kasten-Kodizes stellen also eine Ansammlung vieler beruflicher Moral-Kodizes dar, wobei jeder Kodex direkt auf den jeweiligen Beruf abgestimmt ist.
Ist also die goreanische Ethik an die Kasten-Kodizes gebunden? Ist berufliche Morallehre das einzige ethische System auf Gor? Wenn das wahr wäre, wäre es unmöglich, goreanischer Moral zu folgen. Erstens hat die Erde kein entsprechendes Kastensystem und es wäre ziemlich ausgeschlossen, ein solches zu etablieren. Zweitens sind die speziellen Kasten-Kodizes praktisch nicht bekannt. Obwohl man seine eigenen Kodex-Regeln entwerfen könnte, gäbe es keine Garantie, dass sie auch goreanisch wären. Selbst der Kasten-Kodex der Krieger ist sehr unvollständig. Glücklicherweise sind die Kasten-Kodizes nicht die einzige Quelle zum Thema Ethik auf Gor, obwohl Art und Inhalt des Kastensystems ein exzellenter Hinweisgeber für die grundlegenden ethischen Strukturen der goreanischen Philosophie sind.
In einer früheren Scroll diskutierten wir die Verbindung des goreanischen Kastensystems zu dem von Plato in The Republic (dt. Politeia, Anm. Fiasco) für seine eigene ideale Stadt vorgeschlagenen System. Wir konnten aufzeigen, wie das Zusammenspiel hoher und niederer Kasten die Teilung in Platos idealer Stadt abbildete. Darüber hinaus konnten wir erarbeiten, dass die Aufteilung Platos darauf zielte, die vier Haupttugenden der griechischen Moral darzustellen: Weisheit, Mut, Selbstkontrolle und Gerechtigkeit. Nun, wenn Gor tatsächlich Platos Ideen aus The Republic wiederspiegelt, spiegelt es dann auch die Tugenden der Morallehre? Würde Gor dann also eine personenbezogene Morallehre wiederspiegeln? Eine sorgfältige Prüfung der Gor-Romane scheint anzudeuten, das die goreanische Morallehre tatsächlich die Tugenden der Moral des antiken Griechenlands wiederspiegelt.
Wir müssen zunächst die Hypothese akzeptieren, dass es auf Gor eine herrschende Morallehre gibt, die vom Kasten-System unabhängig ist. Sie wäre für alle Goreaner, unabhängig von ihrer Kaste allgemein bindend. Und diese Hypothese ist leicht zu akzeptieren. Es scheint offensichtlich, wenn man die Bücher liest, dass allgemeine ethische Grundsätze von der großen Mehrheit der Goreaner befolgt werden. Wir haben festgestellt, dass es auf Gor keine theologische Grundlage für ein solches Moralsystem auf Gor gibt. Wir haben weiterhin festgestellt, dass die Kasten-Kodizes allgemein nur berufsethische Grundsätze und keine allgemeine Morallehre liefern. Da die Kodizes von Kaste zu Kaste variieren, gibt es keinen Grund, sie als gemeinsames Fundament einer goreanischen Morallehre zu betrachten. Diese zwei Gründe führen zu dem Schluss, dass Gor keine handlungsbezogene Morallehre besitzt, da es kein festes Fundament dafür gibt, festzulegen, welche Handlungen moralisch sind und welche nicht. Und wenn es keine handlungsbezogene Morallehre ist, muss es offensichtlich eine personenbezogene Morallehre sein.
Bei den personenbezogenen Morallehren ist die der Tugenden am verbreitetsten. Und da Gor stark durch das antike Griechenland und Rom beeinflusst wurde, scheint es angemessen, dass es seine Morallehre auch sein wird. Dies wird stark durch den signifikanten Einfluss von Platos The Republic auf Gor unterstüzt. Außerdem weist vieles in den Büchern auf das Konzept der Tugenden der Ethik hin. Gor scheint sich auf die vier Haupttugenden zu verlassen und zusätzlich bestimmte andere Tugenden für wichtig zu halten. Plato selbst akzeptierte die Gültigkeit anderer Tugenden neben den vier wichtigsten. Allerdings bestimmen die vier Haupttugenden das Leben des Einzelnen am stärksten.
Die vier Haupttugenden umfassen Weisheit, Mut, Selbstkontrolle und Gerechtigkeit. Diese vier Tugenden bilden das Kernstück, die grundlegenden Elemente goreanischer Morallehre. Andere Tugenden, wie Ehre und Ehrlichkeit, sind, obwohl wichtig, zweitrangig für diesen Kern. Jemand, der die vier Kerntugenden besitzt, wird wahrscheinlich auch über die zweitrangigen Tugenden verfügen. Allerdings gilt dies nicht umgekehrt. Zum Beispiel gibt es ehrliche Feiglinge. Ein mutiger Mann wird nicht zum Lügen neigen, da er die Konsequenzen der Wahrheit nicht fürchtet. Ehre ist eine abgeleitete Tugend, wertvoll in Bezug auf individuelle Tugenden, die das Ganze vereinen.
Diejenigen, die nach goreanischer Moral leben möchten, müssen ihre vier Haupttugenden fördern. Diese Tugenden sind nicht auf Kaste, Stadt oder Status begrenzt. Sie sollten für alle Völker, alle Goreaner gelten. Die Pflege dieser Tugenden wird nicht als Teil moderner Morallehren begriffen. Die ethischen Grundsätze der Erde zielen mehr darauf ab, das Verhalten des Einzelnen zu bestimmen, vorzugeben, welche Handlungen erlaubt und gewünscht sind. Deshalb richtet sich der Versuch goreanische Tugenden einzuführen direkt gegen unsere soziale Konditionierung. Er entwickelt einen radikal unterschiedlichen ethischen Standpunkt, der eine gründliche Änderung des Blickwinkels erfordert. Es geht um die Entwicklung und das Wachstum des eigenen Ichs im Gegensatz zu einem blinden Kleben an einem Geflecht aus Regeln und Geboten.
Aristoteles erklärte, dass das Ziel der Pflege von Tugenden Eudämonie sei, was häufig mit Glücksgefühl übersetzt wird. Allerdings ist dies keine völlig angemessene Übersetzung, da Glücksgefühl Eudämonie nur unzureichend beschreibt. Es handelt sich eher um eine "Erfüllung des Lebens" oder einen "wertvollen Lebensstil". Und dieses Thema der Erfüllung zieht sich durch die Gor-Romane und unterstützt weiter die These, das die goreanische Morallehre auf den ethischen Tugenden aufgebaut ist. "Zivilisation kann auf der Unterdrückung der menschlichen Natur aufgebaut sein, sie kann sich aber auch auf ihrer Erfüllung begründen." (Die Erforscher von GOR, S. 37) Willst Du Dein Leben in Verleugnung verbringen oder willst Du die wesentlichen Tugenden pflegen und ein Leben in Erfüllung suchen?
"Auf der Erde hatten die Männer darin Erfolg, eine komplizierte Falle zu bauen, aus der sie möglicherweise nicht mehr herausfinden können. Vielleicht können sie am Gitter rütteln. Vielleicht werden sie in ihrem selbstgebauten Käfig auch lediglich dahinsiechen und sterben."
(Die Stammeskrieger von GOR, S. 318)
Aus der Gorean Voice, Juni und Juli 2002
(Übersetzung von Phil)